in Partnerschaft mit
11.06.2001 * (FJH)
Mit meinem weißen Langstock schlage ich mich schnell vorwärts. Kein Mensch ist auf der Straße. In einer guten Viertelstunde begegnet mir nur ein einziges Auto. Es liegt eine wunderbare Stille über der Stadt um diese Zeit. Allein die Vögel singen fröhlich ihr Morgenlied.
Um 5 Uhr muß ich an der Stadthalle sein, denn dann startet der Bus nach Bremen. Dort findet an diesem Samstag (9. Juni) Deutschlands erste Blinden-Demo statt. Die Marburger
Bezirksgruppe des Blindenbundes in Hessen
(BBH) hat einen Bus gechartert, der auch mich zu dieser Demonstration bringen soll.
Als ich die Ecke Biegenstraße/Savignystraße erreiche, höre ich in der Savignystraße einen lauten Motor. Ich biege ein, und schon kommt mir eine junge Frau entgegen, die mich zur Tür des Reisebusses geleitet. Ich muss hoch hinaufsteigen, denn dieser Bus ist ein Doppeldecker. Ursprünglich war nur ein einfacher Reisebus bestellt worden, doch er reichte für den Andrang der Blinden nicht aus. Fast 70 Mitreisende werden nun von Marburg nach Bremen fahren, um dem Senat der Hansestadt ihren Protest gegen seine unsoziale Entscheidung zu bekunden.
Ich setze mich auf einen Platz im hinteren Teil des Oberdecks. Jemand verliest die Namen der angemeldeten Fahrgäste. Zwei fehlen. So bleiben sechs der 70 Plätze frei.
Pünktlich um Viertel nach Fünf setzt sich der Bus in Bewegung. Der Fahrer erklärt seinen blinden Fahrgästen, wo im Bus sie die Toilette finden und wie sie die Sitze verstellen können.
Leicht schwankend rollt der Doppeldeckbus durch die leeren Straßen zur Autobahnauffahrt "Marburg-Nord". Langsam bemächtigt sich meiner die Müdigkeit. Das leise Brummen des Motors und die sanften Bewegungen des Fahrzeugs wiegen mich in einen leichten Schlaf.
Kurz nach zehn Uhr erreichen wir Bremen. Der Bus parkt beim Weserstadion. Wir sind die ersten.
Kaum sind wir ausgestiegen, brummt der nächste Bus heran. Zwei weitere folgen. Aber von 2.000 bis 3.000 Demonstrationsteilnehmern ist nichts zu bemerken.
Es werden "Aktionsmittel" verteilt: Luftballons, Halstücher und Kappen mit drei gelben Punkten auf schwarzem Grund. Zehn Leute stülpen sich einen gelben "Blindwurm" über, in dem sie hintereinander durch Bremens Straßen ziehen. Ich befestige ein Schild an meinem Langstock: "Tausche Blindenstock gegen Bettelstab".
Weitere Busse laufen ein. Auch die
Deutsche Blindenstudienanstalt
ist aus Marburg mit einem eigenen Kleinbus angereist. BliStA-Direktor Jürgen Hertlein begrüßt Bekannte.
Die Stimmung steigt. Wir singen: "Und dann hau ich mit dem Hämmerchen mein Sparschwein, mein Sparschwein kaputt. Mit dem Innenleben von dem kleinen Sparschwein gehts Henning wieder gut."
Henning Scherff ist der Name des Bremer Bürgermeisters, der den blinden Bürgerinnen und Bürgern der Hansestadt die Zwendungen für behinderungsbedingte Mehraufwendungen wegnehmen will. Wir rufen: "Unser Scherflein für das Land: Henning in den Ruhestand!" oder "Kein Taxi, keine Hilfsperson! Henning fragt: Wer braucht das schon?" und "Henning, wir sagen Dir im Chor: Lies jetzt Du die Post uns vor!"
Mehrere andere Demonstranten kommen und fragen, woher wir sind. Ein Sachse schließt sich uns an: "Ihr Marburger seid so ein lustiges Häuflein!"
Noch haben wir gut lachen, denn uns betreffen die geplanten Kürzungen nicht. Leidtragende werden vor allem ältere Menschen sein, denn zwei Drittel der Blinden geraten erst im Rentenalter in diese Situation. Und noch soll die Bremer Kürzung nur für Menschen gelten, die ab dem 1. Juli erblinden. Alle bisherigen Bezieher von Blindengeld genießen "Besitzstandsschutz".
Obwohl fast keiner von uns direkt betroffen ist, sind wir alle sehr betroffen über so viel Dreistigkeit. Am selben Tag, an dem der Bremer Senat die Streichung des Blindengelds beschlossen hat, bewilligte er 25 Millionen DM für den Ausbau des Weserstadions zu einem länderspieltauglichen Fußballstadion.
Vor eben diesem Weserstadion stehen wir und rufen: "Henning Scherff soll sich was schämen, uns das Blindengeld zu nehmen!"
Ein Lautsprecher ertönt. Weit hinten steht eine größere Menschenmenge. Die Stimme kündigt zwei Straßenbahnzüge und drei Busse voll Demonstranten an. Schon stehen 2.000 Menschen auf dem Platz. Wir brechen in Jubel aus.
Mit halbstündiger Verspätung setzt sich der Demonstrationszug in Bewegung. Inzwischen ist unsere Zahl schon auf gut 3.000 angestiegen. Und immer noch stoßen weitere Demonstrantinnen und Demonstranten zu uns.
Wir rufen: "Wenn die Dlinden-Demo kommt, flieht das SPD-Fest prompt" und "Wir Blinden schlagen uns hier wacker, die SPD macht sich vom Acker!" Grund für diese Parolen ist die kurzfristige Verlegung eines Stadtfests der Bremer SPD von der Innenstadt ins 40 Kilometer entfernte Bremerhaven. Die Organisatoren haben wohl befürchtet, einige Blinde könnten von der Demo zu ihrem Fest überwechseln und den Genossen dort die Feierlaune verderben.
"Eh sie es uns allen nehmen, Solidarität mit Bremen!" Mit diesem Spruch ziehen wir durch Deutschlands behindertenfeindlichste Stadt. Nein, behindertenfeindlich ist nicht die Stadt, sondern nur deren regierende große Koalition. Die Menschen auf der Straße begegnen uns durchweg mit Zustimmung und Sympathie.
Auf dem Goetheplatz vor dem Theater findet die Abschlusskundgebung statt. Anfangs können wir kaum etwas verstehen, so groß ist die Menschenmenge, die auf dem Platz kaum unterkommt.
Nach einigen Problemen werden die Durchsagen lauter. Uwe Beusen, stellvertretender Vorsitzender des in Marburg ansässigen
Deutschen Vereins der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf
(DVBS) moderiert die Kundgebung. Er lebt in Bremen und arbeitet dort als Richter. Der Landesregierung stellt er sieben Fragen, die deren Argumentation für die Streichung des einkommensunabhängigen Blindengeldes in Frage stellen.
In der Bremer Verfassung genießen Behinderte besonderen Schutz. Bedeutet dieser besondere Schutz, dass man Blinde in die Sozialhilfe abdr„ngt?
Nur einkommensschwache Menschen sollen in Bremen künftig ilfen für ihre blindheitsbedingten Mehraufwendungen erhalten. Haben Blinde mit normalem Einkommen keine Mehrausgaben für die Blindheit?
Der Bremer Senat hat kürzlich dem einkommensunabhänigen Kindergeld zugestimmt. Ist Blindheit nicht ebenso einkommensunabhängig eine Mehrbelastung wie ein Kind?
Das Land Bremen ist Nutznießer des Länderfinanzausgleichs, der von anderen Bundesländern finanziert wird. Damit folgen sie dem grundgesetzlichen Auftrag, gleiche Lebensbedinungen in der gesamten Republik zu schaffen. Gilt Solidarität für den Bremer Senat nur dann, wenn er selbt Nutznießer dieser Solidarität ist?
Gilt die Forderung, "gleiche Lebensbedingungen" zu schaffen, nicht auch für das Verhältnis von Nichtbehinderten und Behinderten?
Warum fragt der Bremer Senat die Besucher subventionierter Theateraufführungen nicht nach ihrem Einkommen, sondern nur die Blindengeldempfänger?
Warum hat der Landesetat 25 Millionen DM für ein Stadion übrig, das höchstens vier Länderspiele erleben wird, aber nicht einmal eine Million im Jahr für die blinden Bürgerinnen und Bürger?
Gegen Viertel nach Zwei ziehen fast 4.000 behinderte Demonstrantinnen und Demonstranten wieder heim. Auf dem Rückweg muss ich an ein Papier der
Humanistischen Union
(HU) denken, die die "Wurzeln rechter Gewalt in der Mitte der Gesellschaft" ausmacht. Das sozialdarwinistische Leistungsstreben ohne Rücksicht auf Schwächere befördere faschistoides Denken, heißt es dort. In Deutschland mussten Behinderte solche Tendenzen schon einmal mit dem Leben bezahlen.
Todmüde, aber zufrieden mache ich mich auf den Heimweg. Meine Stimme kratzt und krächzt, aber ich habe sie erhoben. Wehret den Anfängen!
07.06.2001 * (FJH)
In Bremen wird Blindheit vom 1. Juli 2001 an zum Armutsrisiko. Das Blindengeld haben alle Bundesländer bisher für den Ausgleich behinderungsbedingter Mehraufwendungen bezahlt. Taxifahrten, Vorlesekräfte, Putzhilfen, Begleitpersonen oder die Anschaffung technischer Alltagshilfen wie sprechender Uhren und Waagen sollen in der Hansestadt bald nur noch nach vorherigem Bittgang mitfinanziert werden. Wer diesen Mehraufwand nicht aus eigenen Mitteln finanzieren kann, wird dort dann zum Sozialhilfeempfänger. In allen anderen Bundesländern mildert das einkommensunabhängige Blindengeld die wirtschaftlichen Nachteile der Behinderung ein wenig ab; in Bremen hingegen kommt künftig zu der Alltagsbelastung eine finanzielle Benachteiligung hinzu. Die Sparmaßnahme bringt dem Landesetat aber nur wenige 100.000 DM im Jahr.
Gegen diese Kürzung protestieren Deutschlands Blindenorganisationen am Samstag (9. Juni) in der Hansestadt. Zur ersten bundesweiten Blinden-Demo hat der Blindenbund in Hessen (BBH) einen Bus organisiert, der um 5 Uhr vor der Marburger Stadthalle startet. Nach
Angaben des BBH-Bezirksvorsitzenden Hans Röttgers
sind dessen 50 Plätze schon ausgebucht.
Zu der bundesweiten Protestaktion gegen eine landespolitische Entscheidung haben sich die deutschen Blindenverbände entschlossen, da sie fürchten, das Bremer Beispiel könnte anderswo Schule machen.
25.05.2001 *
Armutsrisiko Kinder: Sozialhilfe für Alleinerziehende
Soziales
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