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Text von Mittwoch, 10. März 2004

 
Blinde im Kino: Erbsen auf halb Sechs mit Kopfhörer
  Marburg * (FJH)
"Der Selbstmordversuch nach plötzlicher Erblindung ist nicht unrealistisch", meint dr. Otto Hauck. Und der Vorsitzende des Deutschen Vereins der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf (DVBS) fügte hinzu: "Wer mit Rehabilitanten zu tun hat, kennt so etwas."
Ein realistisches Bild des Lebens in Blindheit vermittelt "Erbsen auf halb sechs" insgesamt aber nicht. Bei einer Vorführung speziell für Menschen mit Sehbeeinträchtigungen zeigten die Marburger Filmkunsttheater das neueste Werk des Regisseurs Lars Büchel am dienstag (9. März) im "Capitol" in der neuen "Dolby-Screen-Talk-Technik". Über Kopfhörer werden dabei gesprochene Bildbeschreibungen zur regulären Tonspur hinzugefügt.
In acht deutschen Städten ist die Audiodeskription für Blinde der Deutschen Hörfilm gGmbH in den Kinos unterwegs. Marburg war eine der Stationen, wo die Kopfhörer per Infrarot eine zweite Tonspur mit den Bildbeschreibungen zu dem Film einspielen. Bei einer kurzen Nachbesprechung im Anschluss an die Vorführung dankte Pressesprecher Rudi Ullrich von der Deutschen Blindenstudienanstalt (BliStA) Marion Closmann von den Marburg Filmkunsttheatern für ihr persönliches Engagement zugunsten blinder und sehbehinderter Menschen.
Zwei Blinde stehen auch im Mittelpunkt der Geschichte, die Lars Büchel in eindrucksvollen Bildern erzählt. Die Therapeutin Lilly soll Jakob lebenspraktische Fertigkeiten wie das Gehen mit dem Langstock, Lesen und Schreiben der Brailleschrift sowie Tricks zur Bewältigung des Alltags vermitteln. Aber Jakob zerfließt in Selbstmitleid. Was er nicht weiß: Lilly ist ebenso blind wie er!
Bei einem Autounfall war der erfolgreiche Theaterregisseur erblindet. Die neue Situation kann er kaum ertragen. So versucht er, von einem Hochhaus hinabzuspringen. Doch er landet - nur eine Etage tiefer - auf den Kuchentellern zweier alter damen im Café auf der Dachterasse!
Nach dem missglückten Suizid hat er nur noch ein Ziel: Er möchte seine sterbenskranke Mutter in Russland besuchen. Lilly begleitet ihn ein Stück des Wegs, da sie sich für den tolpatschigen Typen verantwortlich fühlt.
Lillys Freund Paul und ihre Mutter Regina reisen den beiden hinterher. Seit Jahren "behüten" sie die geburtsblinde Lilly und wollen nur ihr Bestes. Doch die junge Frau verliebt sich in Jakob.
Eine schöne Liebesgeschichte hat Lars Büchel da in Szene gesetzt. Sie vermittelt vor allem Eines: Der Mensch ist mehr als nur seine Behinderung!
So steht die Individualität der beiden Protagonisten auch im Vordergrund. Dahinter tritt eine realitätsnahe Darstellung ihrer Blindheit zurück.
"Wenn Lilly mit dem Langstock vor der Kamera herumläuft, merkt man deutlich, dass die Schauspielerin Fritzi Haberland nicht blind ist", beklagte sich eine sehende Zuschauerin. "Die Pendelbewegungen des Stocks stimmen nicht mit ihren Schritten und dem Tempo überein."
Auch Jakobs Tollpatschigkeit entspricht nicht der Unbeholfenheit von Späterblindeten kurz nach dem Verlust ihres Augenlichts. Vielmehr sind die Szenen, wo er wie ein tumber Tor herumstolpert, eher erheiternde Slappstick-Einlagen. Schließlich ist auch die Reise der beiden Blinden durch Russland reichlich unrealistisch dargestellt.
Wirklichkeitsnah hingegen sind Szenen, wo beide fast nebeneinander stehen, den anderen aber nicht bemerken. Realistisch ist auch ihre Orientierung nach Gehör, Geruch und Tastsinn. Klassisch ist schließlich auch die Erklärung der Speisen auf einem Teller nach der Uhr: "Erbsen auf halb sechs!"
 
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