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Text von Dienstag, 10. Mai 2005

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 Erlebte Geschichte: Plötzlich waren alle Nazis weg 
 Marburg * (sts)
"Mein stärkstes Gefühl am 28. März 1945 war, dass nun endlich der Krieg vorbei ist und die Nazis nichts mehr zu sagen haben. Ich war sehr froh darüber", beschrieb Dr. Renate Scharffenberg ihre Eindrücke von dem Tag, als die US-Armee in Marburg einzog. Die langjährige Lehrerin an der Elisabethschule war eine von 17 Zeitzeugen, die am Montag (9. Mai) zu Gast in der Martin-Luther-Schule waren. Nach der Begrüßung durch die Projektleiterin Cordula Mai besuchten die Gäste Klassen der Jahrgangsstufen 10 bis 13. Scharffenberg sprach mit rund vierzig Schülerinnen und Schülern der 11. Klasse über ihre Erfahrungen und Erlebnisse aus dieser Zeit.ŸMit großem Interesse und zahlreichen Fragen verfolgten und gestalteten die Schüler das etwa einstündige Gespräch. Renate Scharffenberg, Jahrgang 1924, berichtete viel aus ihrer Schulzeit: "Ich hatte Glück, dass ich in Leibesertüchtigung und im Singen so furchtbar schlecht war. Dadurch wurde ich von den Nazis nicht so sehr vereinnahmt. Außerdem hatte ich auch immer eine zu große Klappe". Hierzu hatte sie auch noch eine Anekdote aus ihrer Zeit in einem Landschulheim in Niedersachsen parat: "Im Rassenlehre-Unterricht mussten wir gegenseitig unsere Köpfe vermessen. Da ich enttäuscht darüber war keine arisch-nordische Schädelform zu besitzen, griff ich die Hitlerbüste, um auch sie auszumessen. Ich wusste ja nicht, dass all diese Büsten aufgenordet waren und musste kleinlaut die perfekten Maße bekannt geben".ŸDen Einzug der amerikanischen Truppen hatte sie vom Keller der Universitätsbibliothek mit verfolgt, die sich damals noch in der Universitätsstraße befand. Ihre Wohnung in Ockershausen wurde okkupiert und französischen Zwangsarbeitern zur Verfügung gestellt.ŸScharffenberg musste in eine Mansardenwohnung am Ortenberg umziehen. In diesem lebt sie noch heute. "Die Nachkriegszeit war eine gute Zeit für mich", resümierte sie. Zwar habe sie "hart ackern" müssen, um genug zu essen und zu heizen zu bekommen, doch schließlich "hatten wir uns das selbst eingebrockt". Auf die Frage einer Schülerin, ob sie sich schuldig fühle, antwortete Scharffenberg: "Ich fühlte eine Mitschuld nicht aktiv gegen das Regime vorgegangen zu sein. Ich dachte, mein Gott, bist du feige gewesen".ŸÜberraschend sei es für sie gewesen, dass von einem Tag auf den anderen alle Nazis in Marburg verschwunden waren. "Hieß es gestern noch Heil Hitler, hieß es heute ganz zivil Guten Tag", machte sie diesen Eindruck an einem Beispiel fest. Dennoch empfand sie es zum Beispiel als verwerflich, dass sich deutsche Mädchen mit amerikanischen Soldaten einließen: "Mir war es unverständlich, wie sich Besiegte mit Siegern einlassen konnten. Oft stiegen solch seltsam unkoordinierte Gefühle in einem hoch".ŸMit großem Applaus verabschiedeten die Schülerinnen und Schüler die Zeitzeugin. Viele fanden sich im Anschluss noch zu persönlichen Gesprächen in der Schulbibliothek ein. Das Projektziel, den Schülern auf authentische Weise ein differenziertes Verständnis für die damaligen Ereignisse zu vermitteln, konnte am Ende als voll erfüllt angesehen werden. Vielleicht auch eine Unterrichtsidee abseits aller Gedenkfeierlichkeiten?
 
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