Text von Samstag, 22. Oktober 2005
Almosen für Blinde: Adam weiß nichts, aber das besser | ||
Marburg * (fjh)
Die Welt ist ungerecht. Diese bittere Erfahrung mussten die Blinden am Montag (17. Oktober) wieder einmal machen. An diesem Tag veröffentlichte die Tageszeitung "Die Welt" eine Kolumne ihres politischen Chefkorrespondenten Dr. Konrad Adam zur Demonstration gegen die geplante Abschaffung des Blindengeldes in Thüringen. Mehr als 5.000 Menschen hatten am Samstag (8. Oktober) in der Landeshauptstadt Erfurt gegen die Streichung des einkommensunabhängigen Nachteilsausgleichs für blindheitsbedingte Mehraufwendungen protestiert. Die übergroße Mehrheit der Demonstrierenden sei aber gar nicht blind gewesen, behauptete Adam in seinem Kommentar. Nur wenige seien auf einen Blindenstock, einen Führhund oder die Unterstützung einer Begleitperson angewiesen gewesen, behauptete er. Die ganze Demonstration betrachtete er als einen geschickten Schachzug von Verbandsfunktionären, mit dem sie den Besitzstand ihrer sehbehinderten Mitglieder wahren wollten. Abgesehen davon, dass jeder das Recht hat, die Blinden in ihrem Protest gegen ungerechtfertigte Einschränkungen zu unterstützen, widerspricht Adams Behauptung allen Berichten derjenigen, die selbst in Erfurt mitdemonstriert haben. So saßen in dem Bus, den der Deutsche Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf (DVBS) von Marburg aus nach Erfurt geschickt hat, nur drei Begleitpersonen. die restlichen 32 Mitfahrer waren allesamt praktisch blind. Adam jedoch definiert Blindheit nach eigenen Kriterien neu: Blind ist für ihn nur, wer hilflos umherstolpert und offensichtliche Orientierungsprobleme hat. Dass sich die Marburger Demonstrationsteilnehmer an einem langen Seil orientiert haben, das ein Sehbehinderter und seine blinde Frau vorneweg zogen, das scheint Konrad Adam entgangen zu sein. So viel Geschick scheint indes nicht in Adams Vorstellungswelten von Blindheit zu passen. Für ihn sind Blinde wohl eher eingeschüchterte Almosen-Empfänger, die still hinter dem heimischen Ofen hocken bleiben. Demonstrierende Blinde passen da sicherlich nicht hinein! Dieses Bild ist allerdings noch älter als die Sektsteuer. Sie aber erklärte der "politische Chefkorrespondent" der "Welt" für ebenso überkommen und unzeitgemäß wie das Blindengeld. Was für ein Argument: Etwas ist nicht mehr zeitgemäß! Wer befindet darüber? Warum soll das Blindengeld heute nicht mehr zeitgemäß sein? Die Antwort auf diese Fragen liefert der neoliberale Zeitgeist: Der Sozialstaat in seiner bisherigen Ausprägung sei heute nicht mehr zeitgemäß, erklären die Ideologen der bedingungslosen unternehmerischen Freiheiten. Er koste viel zu viel Geld, das der Wirtschaft dann fehle, um die Konjunktur in Schwung zu bringen. Ein wesentlicher Motor dieser Kampagne ist die "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft". Mit acht Millionen Euro jährlich finanziert der Unternehmerverband Gesamtmetall die Propaganda dieser "Initiative" gegen den Sozialstaat. Er soll sturmreif geschossen und dann abgebaut werden. Genau in diese Kerbe haut auch Adam mit seinem Kommentar. Seine Polemik gegen das Blindengeld und die Erfurter Demonstration hat dabei eher den Charakter einer Hetztirade als den eines Kommentars. Gewiss: Kommentare müssen zuspitzen. Sie sollen die Position des Autors präzise auf den Punkt bringen. Aber auch Kommentare unterliegen den Grundsätzen der journalistischen Berufsethik. Gleich gegen drei der 16 berufsethischen Grundsätze des Deutschen Presserates verstößt Adam mit seinem Kommentar: Von einer wahrheitsgemäßen Berichterstattung kann er wohl kaum ausgehen, wenn er behauptet, die Mehrheit in Erfurt sei nicht blind gewesen. Fairness kann seine Wortwahl wohl auch nicht für sich bgeanspruchen, wenn er die Demonstranten als "Mob" bezeichnet. Und zu allem Überfluss verstößt er mit seinem Bild von den Blinden als den "Ärmsten der Armen", die auf "Almosen" angewiesen sind auch gegen das Verbot, Minderheiten und - wie es der Pressekodex ausdrücklich festschreibt - auch Behinderte zu diskriminieren. Nein, Konrad Adam hat mit seiner Kolumne in der Welt wahrlich kein journalistisch ernstzunehmendes Werk abgeliefert. Vielleicht sollte der "Politische Chefkorrespondent" der "Welt" sich doch noch einmal die Grundlagen der journalistischen Arbeit genauer vergegenwärtigen. am besten wäre, er finge mit den einfachsten Grundlagen bei Adam und Eva an! | ||
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