Text von Donnerstag, 23. November 2006
Große Hessen: Substanzarme Wahl der Qual | ||
Marburg * (ule)
"Herrschende Ideen sind immer die Ideen der Herrschenden!", hat ein kluger deutscher Kopf im Verlaufe des 19. Jahrhunderts einmal gesagt. Dass auch die herrschende Geschichte die Geschichte der Herrschenden ist, bestätigt nun der Hessische Rundfunk (HR). Aus 100 vorgegebenen Personen soll der "größte Hesse" gewählt werden. Ziel dieser Aktion ist es, "sich ein bisschen selbst zu feiern". Zur Auswahl stehen allerhand Köpfe aus Politik, Wirtschaft, Sport und Show-Geschäft. Sie alle haben sich auf die eine oder andere Weise einen Namen gemacht. Der Unternehmer Josef Neckermann beispielsweise hat während des Nationalsozialismus Firmen aus jüdischem Besitz unter ihrem Marktwert aufgekauft. Der CDU/ CSU-Fraktionsvorsitzende Alfred Dregger glänzte dadurch, dass er zu den stärksten Befürwortern des Radikalen-Erlasses und der Stationierung von Pershing-II-Raketen gehörte. Jahre später fiel er tief beleidigt über die Organisatoren der umstrittenen Wehrmachts-Ausstellung her. Natürlich darf in dieser Reihe auch Joschka Fischer nicht fehlen. Er schließlich hatte die Grünen von ihren "pazifistischen Zwangsneurosen" befreit. 1999 schickte er Aufklärungs-Flugzeuge in den Kosovo und 2001 deutsche Soldaten an den Hindukusch. In Gesellschaft dieser Personen wirken der "Fakten, Fakten, Fakten"-Journalist Helmut Markwort und Rudi Völler, der uns schließlich weder zum Europa- noch zum Weltmeisterschaftssieg verhalf, beinahe lächerlich. Gleichzeitig unterschlägt die Liste trotz einiger Feigenblätter wie Anne Frank oder Wilhelm Leuschner eine Reihe von Namen, die für eine andere hessische Tradition stehen könnten: Allein in Marburg wären das etwa Erich Prof. Dr. Erich Auerbach, Prof. Dr. Werner Krauss oder Prof. Dr. Wolfgang Abendroth. Zu nennen wären da außerdem Fritz Bauer, Peter Gingold oder Emil Carlebach. Auch die Frauen kommen in dieser Liste quantitativ ziemlich schlecht weg. Bettina von Arnim findet man ebenso wenig wie die nach Theresienstadt deportierte erste Frau im Marburger Magistrat Dr. Hedwig Jahnow. Angesichts der vom HR vorgelegten Auswahl stellt sich die Frage, wessen Geschichte da gewählt und gefeiert werden soll: Faschistischer Terror? Die Remilitarisierung? Der Abbau von demokratischen Rechten? Die Inbetriebnahme von Atomkraftwerken? All das ist nur die eine Seite der Geschichte. Eine andere ist die Bewegung gegen die Notstandsgesetze, die Frauenbewegung, die Anti-Atom-Bewegung, die Friedensbewegung, selbst der Kampf gegen die NPD in Frankfurt. Diese Geschichte von unten hat sich nicht etwa etabliert, weil berühmte Persönlichkeiten dazu aufgerufen hätten. Vielmehr hatte sich eine relevante Anzahl "namenloser" Menschen zusammengefunden, um auf ihre Weise Geschichte zu schreiben. In diesem Sinne wollen die Etablierten mit dieser Wahl wohl tatsächlich sich selber feiern. Dabei sind die "größten Hessen" vermutlich wirklich die vielen namenlosen, die für ihre Überzeugung sogar ihr Leben riskiert haben. | ||
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