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Text von Freitag, 2. November 2007

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 Ausgrenzung: Butterwegge über Kinder-Armut 
 Marburg * (fjh)
"In Deutschland gibt es 157 Sozialleistungen. Da blickt kein Mensch mehr durch. Ich auch nicht", gab Prof. Dr. Christoph Butterwegge unumwunden zu. Unter dem Titel "Zukunftsaussicht Armut" sprach der Kölner Armutsforscher am Donnerstag (1. November) auf Einladung des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) und des Zentrums für Konfliktforschung der Philipps-Universität im Hörsaalgebäude über "Kinder-Armut in Deutschland.
Entschieden trat er der Behauptung vieler Zeitgenosssen entgegen, in Deutschland gebe es gar keine wirkliche Armut. Zwar sei die "absolute Armut" hierzulande selten, wodurch Menschen in der Chance gefährdet sind, ihre materielle Existenzgrundlagen zu sichern. Doch hält Butterwegge die in Deutschland viel zu verbreitete "relative Armut" für möglicherweise noch schlimmer.
Zumindest Kinder leiden nach seinen Beobachtungen erheblich darunter, dass sie sich nicht leisten können, was alle anderen um sie herum auch haben. "Kinder werden möglicherweise nicht zu Kindergeburtstagen eingeladen, wenn sie kein eigenes Zimmer haben und deshalb ihrerseits keine anderen Kinder zu ihrem Geburtstag einladen", erläuterte der Wissenschaftler.
Gegenüber der Armut von Kindern zeige die Gesellschaft mehr Mitgefühl als gegenüber armen Erwachsenen. "Kinder sind würdige Arme", erklärte Butterwegge. "Kinder kann man nicht für die eigene Armut verantwortlich machen, wie das bei Erwachsenen häufig geschieht."
Diese Schuld-Zuweisung sieht der Armutsforscher als ein großes Problem an. Häufig kämen zu ihm Journalistinnen, die herzergreifende Stories über Kinder-Armut schreiben wollten. "Die sitzen dann ganz gerührt in meinem Büro, aber denen wäre es völlig egal, wenn vor der Tür draußen auf der Straße ein Obdachloser verhungern würde!"
Kinder-Armut gehe aber in aller Regel mit der Not ihrer Mütter einher. 7,4 Millionen Menschen beziehen in Deutschland nach amtlichen Statistiken Hilfen zum Lebensunterhalt. Allein 1.928.000 Kinder bis 15 Jahre leben in Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaften.
Rechne man noch Kinder von Beziehern von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch XII (SGB XII) sowie Kinder von Asylbewerbern und "Illegalisierten" hinzu, so betrage die Zahl rund 2,7 Millionen.
Da Butterwegge aber ein Verfechter des "Lebenslagen-Ansatzes" ist, der Armut aus der jeweiligen Lebenssituation heraus definiert, schätzt er die wahre Zahl von Kindern, deren Eltern aufgrund von Alkoholismus, prekärer oder entfernt auswärtiger Berufstätigkeit mit niedrigem Einkommen oder aus anderen Gründen ihren Kindern nicht die notwendige Fürsorge angedeihen lassen, auf rund 3,3 Millionen.
Das jetzt eingeführte Elterngeld könne die Situation nicht nachhaltig verbessern, da es höchstens die ersten drei Lebensjahre absichere. Problematisch aber werde die Situation armer Kinder vor allem im Schulalter.
1,50 Euro monatlich sieht der Regelsatz des Arbeitslosengeldes II (ALG II) für Bildung und Kultur vor. Ein Buch, ein Theater- oder Kinobesuch oder andere "Events" seien da kaum drin, bedauerte Butterwegge. So werde die Armut der Kinder in ihr späteres Leben hinein forttansportiert.
Vehement sprach sich der Hochschullehrer deshalb auch gegen Studiengebühren aus. Seiner Erfahrung nach dienten sie nicht vorrangig dazu, die Hochschulen zu finanzieren. Vielmehr solle die Bildung zur Ware gemacht werden, für die die Studierenden bezahlen.
Als er kürzlich krank gewesen sei, habe er Äußerungen seiner Studenten mitbekommen, die ihren Anspruch auf seine Vorlesung eingefordert hatten. So entstehe ein Konkurrenzdruck zwischen Studierenden wie auch zwischen den Professoren untereinander.
Energisch wies Butterwegge Äußerungen beispielsweise des Ex-Bundeskanzlers Helmut Schmidt zurück, wonach der Regelsatz des ALG II für Erwachsene höher liege als zu seiner Schulzeit der Monatslohn eines Facharbeiters. Man könne die heutigen Lebensumstände nicht mit denen früherer Zeiten vergleichen. Gemessen werden müsse jedes Einkommen an dem Wohlstand derjenigen, die rund um die betreffenden Menschen herum leben.
"Man kann nicht über Armut reden, ohne auch über Reichtum zu sprechen", meinte Butterwegge. Deshalb setzte er das Vermögen des reichsten Bundesbürgers mit dem Hartz-IV-Regelsatz ins Verhältnis: Der Supermarkt-Betreiber Albrecht besitze 38 Milliarden Euro Privatvermögen. Damit verfüge er über 100-millionen-mal so viel Geld wie ein Erwerbsloser! Butterwegge sprach sich deswegen für eine Vermögenssteuer zur Finanzierung höherer Sozialleistungen aus. Auch kritisierte er, dass die Körpferschaftssteuer zur Abschöpfung von Unternehmensgewinnen von 53 Prozent zu Beginn der Kanzlerschaft von Helmut Kohl auf nunmehr nur noch 15 Prozent abgesenkt wurde. Den Armen riet Butterwegge, ihre Not öffentlich zu machen. Die vorherrschende neoliberale Politik bedürfe dringend eines öffentlichen Widerspruchs. Schließlich habe ihm niemand einen triftigen Grund dafür nennen können, warum beispielsweise die Erbschaftssteuer für Nachwuchs-Unternehmer ausgesetzt werden müsse. Dagegen müsse es Proteste geben, forderte Butterwegge. Leider führe Armut aber häufig dazu, dass die Betroffenen an Depressionen leiden. Hier hofft der Armutsforscher aber auf eine Veränderung, damit auch die Opfer der neoliberalen Politik in Zukunft mehr Mut haben, ihr Gesicht zu zeigen.
 
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