17.11.2001 * (FJH)
Am Tag danach gibt es nur Gewinner: CDU/CSU und FDP haben die Bundesregierung mal so richtig vorgeführt; der Kanzler hat das eingeforderte Vertrauen erhalten, und die Grünen haben die Koalition gerettet. Nicht ganz so euphorisch äußerte sich Elke Siebler vom Kreisverband der
Grünen Marburg-Biedenkopf. In einer Presseerklärung begrüßt sie die Fortführung des "rot-grünen Projekts". Immerhin stellt sie aber auch fest, dass die Verknüfung der
Entscheidung über den Bundeswehreinsatz
mit der Vertrauensfrage "den Grünen geschadet" hat. Eine nur an der Gewissensfreiheit orientierte Entscheidung über den Bundeswehreinsatz hätte ihrer Ansicht nach die Stimmung in der Bevölkerung richtig repräsentiert.
"Wir sind das Volk", riefen vor 12 Jahren bürgerbewegte Menschen in einem repressiven Regime. Mut und Selbstbewusstsein halfen ihnen, die Fesseln der Unterdrückung abzustreifen und die sogenannte "Sozialistische Einheitspartei Deutchlands" (SED) in die Geschichtsbücher und Erinnerungsromane zu verbannen.
Die Bundesrepublik übernahm, und gar mancher mag sich dabei übernommen oder überfressen haben. Übrig geblieben ist wenig von der einstigen Bürgerbewegung und ihrem Rückgrat. Noch schlimmer verhält es sich aber mit der westdeutschen Bürgerbewegung der frühen 80er Jahre, die mit der Partei "Die Grünen" damals fast überall in die Parlamente einzog.
Längst ist die damalige Aufbruchstimmung "realpolitischer" Ernüchterung gewichen. Mit Petra Kelly starb das Ideal der "Fundamental-Opposition", die sich den Entscheidungszwängen in Parlament und Regierung widersetzt. Mit Joschka Fischers Aufstieg zum deutschen Außenminister und der Beteiligung am Kosovo-Krieg opferte die Partei ihren Pazifismus der militärstrategischen Machtpolitik.
Als der damalige grüne Landessprecher Frank Schwalba-Hoth vor knapp 20 Jahren durch die Dörfer des Hinterlandes reiste, um in jedem Bürgerhaus eine Wahlveranstaltung und auf jedem Marktplatz einen Informationsstand zu organisieren, da schlug ihm - selbst von erzkonservativen Zeitgenossen - Interesse und Respekt entgegen. Damals bedurfte es noch persönlichen Mutes, als Grüner aufzutreten. Man bewunderte die Grünen für ihr Rückgrat, ihre Originalität und ihre Einsatzbereitschaft. Was ist davon heute noch übrig? Aus dem Aufbruch in die Zukunft unserer Kinder wurde längst schon ein Einbruch der Wählerstimmen und der Abbruch der kreativ verschnörkelten Jugendstil-Fassaden des Parteiprogramms. Mittlerweile sind die Grünen genauso eine "etablierte Partei" - so geißelten ihre Schriften einst die anderen Parteien im Bundestag - und die Grünen sind genauso pöstchen- und machtgeil wie die Westerwelles und Möllemanns. Hauptsache: Mitregieren!
Auch für Elke Siebler kommt das Mitregieren an erster Stelle vor Krieg und Frieden. Im Angesicht drohenden Amtsverlusts erweisen sich die Grünen - auch die bisher aufrichtigen "Linken" - als erpressbar. Von Aufrichtigkeit und Glaubwürdigkeit bleibt da überhaupt nichts mehr.
Der gestrige Freitag war ein Tiefpunkt des deutschen Parlamentarismus. Parteiräson rangierte höher als Gewissensfreiheit; Erpressung von Abgeordneten machte der Kanzler höchstpersönlich hoffähig. Der Bürgerwillen musste weitgehend - bis auf die in der Friedensfrage auch nicht immer glaubwürdige PDS - draußen bleiben.
Schlimme Vermutungen kommen auf: Gehören Erpressung, Vorteilsannahme und bedingungsloser Gehorsam etwa zum politischen Standard-Repertoire der Berliner Republik?
Die Grünen, aber auch das Parlamentarische System, haben mit dieser "Vertrauensfrage" einmal wieder an Glaubwürdigkeit verloren. Auf Orts-, Kreis - und Bundesebene erweist sich diese
, denen aber die Ehrlichkeit des ersten Bundeskanzlers Konrad Adenauer fehlt. Der erklärte einmal freimütig: "Was kümmert mich mein dummes Geschwätz von gestern?"
16.11.2001 * (sfb)
Das Recht auf sauberes Wasser oder medizinische Versorgung ist selbstverständlich. Wen es aber in Straßen wie die Ketzerbach, die Bahnhofstraße oder den Wehrdaer Weg verschlagen hat, der muss am eigenen Leib erfahren, worauf er kein Recht hat: auf Ruhe. Schlimmer noch: Niemand kommt ernsthaft auf die Idee, dieses Recht auch nur einzufordern. Dabei ist Ruhe ebenso notwendig für die Gesundheit wie sauberes Wasser. Aber der Autolärm dröhnt unentwegt, überall.
Zu den
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Ist diese unbeschränkte Mobilität wirklich die Freiheit, die wir brauchen? Freiheit wächst bekanntlich durch Beschränkung. Die "mobilen Unbeschränktheiten" auf den Straßen wie in den Köpfen nehmen sich lediglich Freiheiten heraus - und anderen weg. Unsere Bedürfnisse werden buchstäblich "überfahren".
Wer mindestens dreimal des Nachts aus dem Schlaf gerissen wird, wer sich nicht mehr vom Alltagsstreß erholen und entspannen kann, bleibt halt auf der Strecke. Herz- und Kreislaufprobleme, Konzentrationsstörungen, Nervosität, Schlaflosigkeit, Gereiztheit sind der Preis dieser "Freiheit".
Der Autoverkehr produziert aber nicht nur Lärm, sondern auch gesundheitsschädlichen Dreck in rauhen Mengen. Damit nicht genug: Unzählige Menschen sterben täglich im Autoverkehr. Was solls; man nimmt ihren Tod hin wie die Kollateralschäden im Krieg. Von Umdenken oder gar Umkehren ist also keine Spur.
Dabei muß man doch nicht auf das Auto verzichten. Ein vernünftiger Umgang damit wäre vonnöten. Wohngebiete könnten verkehrsberuhigt angelegt werden, der Einsatz von mehr öffentlichen Verkehrsmitteln zu allen Zeiten sowie der Ausbau von Fahrradwegen wären leicht möglich. Doch all das scheitert an der geistigen Trägheit der Kommunalpolitiker.
Die Aktion des VCD und der Umweltverbände, die dazu auffordern, das Auto für einen Tag stehen zu lassen, ist ein erster Schritt, dem noch viele folgen könnten. Doch bisher blieben Projekte zur Eindämmung des hohen Geräuschs - und Abgaspegels in der Schublade.
So hatte das Stadtparlament einstimmig beschlossen, die Elisabethstraße zur Fußgängerzone umzubauen. Vor noch längerer Zeit haben grüne Politiker Überlegungen angestellt, den Wehrdaer Weg und die Wehrdaerstraße in zwei Sackgassen umzuwandeln, die durch eine Schwelle voneinander getrennt sein sollten, welche nur der Bus überqueren darf. Obwohl der Hang am Lahnufer rutscht und diese Situation durch den Verkehr verschlimmert wird, kam im Wehrdaer Weg nichts in Bewegung, außer den Autos.
Auch die absolute Sperrung der Oberstadt für den Autoverkehr wurde nicht umgesetzt; die Fußgängerzone in der Barfüßerstraße wurde nach nur einer Woche wieder für Autos geöffnet. Versuchen die Verantwortlichen etwa, den Kopf in den Sand zu stecken, um nichts mehr zu sehen, zu riechen und zu hören?
Auch viele Betroffene scheinen nichts mehr zu merken. Lärm und Abgase haben sie wohl schon betäubt.
15.11.2001 * (FJH)
Die
Deutsche Bahn AG
(DBAG) plant ihre Zukunft. Vornehm möchte sie werden mit gesäuberten Bahnhöfen und blitzschnellen Zügen. Da passt der gemächliche InterRegio nicht mehr ins blankpolierte Bild. Deswegen soll der Nachfolger des guten alten D-Zugs aufs Abstellgleis. Dort, wo die Aufgabe dieser Verbindung wirtschaftlich kein kluger Zug wäre, möchte die DBAG ihn durch Inter-Citys ersetzen.
Wie der Kreis-Beigeordnete
Karsten McGovern
mitteilte, plant die "DB-Regio" nach Auskunft des
Rhein-Main-Verkehrsverbundes
(RMV) mit dem nächsten Fahrplanwechsel ab dem 15. Dezember 2002, auch auf der Main-Weser-Bahn zwischen Frankfurt und Kassel Inter-City-Züge (IC) einzusetzen. Der RMV verhandelt mit der Bahn noch über die Umlage der entstehenden Kosten. Dabei geht der Verbund davon aus, dass das Inter-City-Angebot für ihn nicht teurer wird als das bisherige Inter-Regio-Angebot.
"Für die Region bringt die Aufwertung zur Inter-City-Linie den Vorteil, besser ins Fernverkehrsnetz eingebunden zu sein", meinte McGovern. Er sieht darin eine Aufwertung des Angebots der Main-Weser-Bahn, was er sehr begrüßt. Der Kreis-Politiker betont aber gleichzeitig, dass dies nicht zum Nachteil der regionalen Verbindungen führen dürfe.
Eines scheint der Verkehrsdezernent des
Kreises Marburg-Biedenkopf
aber noch nicht verstanden zu haben: Für die Fahrgäste wird der Inter-City auf jeden Fall teurer als der InterRegio. Mit derzeit 7 DM Zuschlag schlägt die DBAG bei jeder Fahrt im IC zu. Fraglich ist zudem, ob alle Monatskarten, Semestertickets und Schwerbehindertenausweise wie bisher im InterRegio als Freifahrschein anerkannt werden.
Schließlich drängt sich auch die Vermutung auf, dass die DBAG mit dieser geplanten Änderung nur alten Wein in neuen Schläuchen - und damit teurer - verkaufen will. Am Fahrplanangebot jedenfalls dürfte sich bei der Beförderung des InterRegio zum Inter-City kaum etwas ändern.
Da stellt sich die Frage: Befindet sich McGovern mit seiner Vorfreude auf einen besseren Bahnanschluss vielleicht auf dem falschen Gleis? Hat sich der Grüne Kommunalpolitiker da in Verkennung der Tatsachen etwa zu früh gefreut?
13.11.2001 * (FJH)
Durch seine Aktionen beim Weltwirtschaftsgipfel in Genua ist
ATTAC
bekannt geworden, am Montag (12. November) hat sich nun auch in Marburg eine örtliche ATTAC-Gruppe gegründet. Etwa 180 Leute waren ins Cafe Trauma gekommen, um beim ersten Treffen der "Globalisierungsgegner" dabeizusein.
Das weltweite Netzwerk für eine gerechtere Wirtschaftsordnung wurde 1998 in Frankreich gegründet. Zunächst setzte sich ATTAC für die Erhebung der "Tobin Tax" ein. Diese internationale Steuer auf Gewinne aus Devisenspekulationen soll nach dem Willen ihres Erfinders, des US-amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlers James Tobin, den Ländern der sogenannten "3. Welt" zugute kommen. Inzwischen gehen die Forderungen von ATTAC aber weiter: Ihr Marburger Sprecher Markus Steigenberger möchte "Die weltweite Hegemonie des Neoliberalismus in einem breiten gesellschaftlichen Bündnis aufknacken und Alternativen dazu aufzeigen".
nächste Aktion von ATTAC-Marburg soll die Teilnahme an Protesten gegen den EU-Gipfel vom 13. bis 15. Dezember in Brüssel sein. Neben der Beteiligung an überregionalen Aktionen werden aber auch vor Ort Arbeitsgruppen gebildet: Die Themen Weltwirtschaft, Nachhaltige entwicklung, Bildung und Soziale Sicherungssysteme sollen inhaltlich ausgefüllt werden.
Für diese Arbeit hat sich ein breites Bündnis unterschiedlichster Gruppen von der Evangelischen Kirche über Gewerkschaften und den BUND für Umwelt und Naturschutz Deutschland bis hin zur PDS-Ortsgruppe zusammengefunden.
Eine Aktion hat ATTAC-Marburg schon zu seiner Gründung durchgeführt: Zum weltweiten dezentralen Aktionstag gegen das WTO-Ministertreffen in Doha hat ATTAC auf dem Marktplatz Flugblätter und Plätzchen verteilt. Die 2.500 Handzettel verkündeten eine "Privatisierung der Oberstadt" mit Erhebung von Eintrittsgebühren und stellten dann den Zusammenhang mit der WTO-Runde her. Die Plätzchen nach dem Motto "Alles wird billiger durch die WTO" enthielten Beipackzettel, auf denen ihre Verteiler keine Garantie daüfr übernehmen wollten, das bei ihrer Herstellung keine Kinderarbeit und keine Zerstörung der Natur vorgekommmmen seien.
Nach dem "sehr zufriedenstellenden Anfang" will ATTAC am12. Dezember auf einem weiteren Plenum seine Arbeitsstrukturen diskutieren. Markus Steigenberger setzt vdabei or allem auf Öffentlichkeitsarbeit: "Was momentan notwendig ist, ist eine politische und weltwirtschaftliche Alphabetisierung."
10.11.2001 * (FJH)
Der Krieg entzweit die Gemüter. Soll die Bundesregierung 3.900 deutsche Soldatinnen und Soldaten nach Afghanistan oder irgendwohin sonst in eine ungewisse und gefährliche Mission schicken? Unter dem Motto "Krieg hilft nicht gegen Terrorismus" demonstrierten am Samstagmittag (10. November) gut 500 Marburger Bürgerinnen und Bürger gegen eine Kriegsbeteiligung der Bundeswehr. Die
Marburger Friedensinitiative "Nein zum Krieg!"
sammelt dagegen auch Unterschriften, die sie den Entscheidungsträgern im
Deutschen Bundestag
- den Marburger Abgeordneten
Brigitte Lange
(SPD) ,
Pia Maier
(PDS) und
Friedrich Bohl
(CDU) - vorlegen möchte. Meinungsumfragen haben zwischenzeitlich wwachsende
Kritik am Bundeswehreinsatz
festgestellt.
Der Regierung läuft ihre Basis davon. Elf Grüne Landesverbände haben sich deutlich gegen die Entsendung der Bundeswehreinheiten ausgesprochen. Auch die Mitgliederversammlung der Grünen Marburg-Biedenkopf hat am Donnerstagabend (8. November) einen solchen Beschluss gefasst.
Die Kreismitgliederversammlung Bündnis 90/Die Grünen Marburg-Biedenkopf fordert die Mitglieder der Grünen in Bundesregierung und Bundestagsfraktion auf, "entschieden der Zuspitzung der humanitären Katastrophe für Millionen hungernder Afghanen entgegenzuarbeiten und sich der unter anderem von UN-Generalsekretär Kofi Annan erhobenen Forderung nach einem Ende der Militärangriffe auf Afghanistan anzuschließen, um möglichst viele Hilfsgüter der UN noch vor Wintereinbruch an die notleidende Bevölkerung verteilen zu können."
Die Luft um Joschka Fischer und Gerhard Schröder wird dünner. Das Kanzler-Wort von der uneingeschränkten Solidarität", das er durch die Einschränkung "aber keine Abenteuer" selbst relativiert hat, stößt beim Volk nicht auf uneingeschränkte Solidarität. Viele sehen in der Kabinettsvorlage zum Einsatz der Bundeswehr ein gefährliches Hasardspiel. Zu unklar seien Einsatzgebiet und Einsatzziele. Deswegen wollen neben 15 Grünen Bundestagsabgeordneten auch einige Parlamentarier der SPD nicht zustimmen. Selbst wenn es Schröder gelingen sollte, einge von ihnen in persönlichem Gespräch auf seine Seite zu ziehen, bleibt die Parteibasis vermutlich doch bei ihrer Ablehnung. Dieser Konflikt zwischen dem "gemeinen Parteivolk" - beispielsweise auch in Marburg - und seinen Vertretern in Bundestag und Regierung zeigt zweierlei ganz deutlich: Viele Abgeordnete repräsentieren nicht mehr den Willen ihrer Wählerinnen und Wähler, denn Macht korrumpiert.
09.11.2001 * (sap)
Sie ist laut. Sie ist hässlich. Die von ihr verströmten Gase vernichten die Umwelt und machen das Leben in Marburg weniger lebenswert - die
Stadtautobahn! Dennoch ist ein Lückenschluss der B3 laut Oberbürgermeister
Dietrich Möller
von "lebenswichtiger Bedeutung", wie er in einem Schreiben an den Verkehrsminister Kurt Bodewig hervorhob. Und Recht hat er, unser Oberbürgermeister: Für unser Leben ist es durchaus wichtig, wie viele Abgase wir bei Spaziergängen durch die
Universitätsstadt
einatmen, wie viele Kinder mit dauerndem Autolärmgeräusch im Ohr aufwachsen und wie sehr die Natur unter der
größten verkehrsplanerischen Sünde
in Marburgs Stadtgeschichte leidet.
Zu den
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Die in großen Teilen zur Autobahn ausgebaute B3 ist südlich von Marburg in einem Teilstück noch nicht fertiggestellt. Im Jahre 2003 werden bundesweit alle geplanten Baumaßnahmen, für die noch kein Baurecht vorliegt, einer Überprüfung unterzogen. Und Möller fürchtet, dass der Lückenschluss seiner geliebten Autobahn dabei von der Tagesordnung fällt.
Investitionsentscheidungen der Wirtschaft würden auch nach dem Kriterium der Verkehrsanbindung gefällt. Gegen gute Verkehrsanbindung in Marburg ist auch wirklich nichts einzuwenden, wie viele Marburgerinnen und Marburger würden lange Fahrtzeiten und nerviges Umsteigen sparen, müssten sie nicht bei vielen Zugfahren in Gießen umsteigen? Doch bei Verkehrsanbindung an Eisenbahnen zu denken kommt Möller nicht in den Sinn. Es muss schon ordentlich viel Dreck geben, in dem Punkt haben die Pharmakonzerne, die er in die Stadt locken will, und die Autobahn einiges gemein.
Der Lückenschluss südlich von Marburg stellt gar nicht das Hauptproblem dar. Doch wird er durchgefochten, haben die Straßenbauer wieder den Fuß in der Tür, um weitere Ausbauten, beispielsweise nördlich von Kirchhain vorzunehmen. Da werden sich die Fernfahrer zweimal überlegen, welche Route sie nehemen: Jeder Kilomenter ausgeabaute B3a macht den Weg vorbei am malerischen Marburg für die lärmenden Kraftwagen attraktiver.
Angeblich zum Wohle der Stadt, die laut dem Leitbild "Marburg 2010" zum anerkannten Standort für Zukunftstechnolgieunternehmen werden soll, tritt Möller ganz in die Fußstapfen von Georg Gassmann, der diese Autobahn einst bauen ließ, um Besucher in die Stadt zu ziehen. Wäre die Entwicklung stets so verlaufen, wie Gaßmann, Möller und andere Freunde der Blechlawine gefordert haben, würde sich Marburg heute wohl weder als Universitätsstadt noch als Touristenmetropole solch großer Beliebtheit erfreuen: Denn dann wäre die historische Oberstadt Ende der 60er einer autofreundlichen Innenstadt zum Opfer gefallen. Ob Möller wohl lieber im Auto an Pharmaziefabriken vorbeifährt als
durch die Gassen der Marburger Oberstadt
zu schlendern?
08.11.2001 * (FJH)
"Der 11. September hat die Welt veränderrt." Vieles, was seither unter der Flagge "Terrorismusbekämpfung" gechieht, hat nach Ansicht von
Johannes M. Becker
eine längere Vorgeschichte. Am Mittwochabend (7. November) legte der Marburger Friedensforscher in der
Volkshochschule
unter dem Titel "Von der Verteidigung zur Wahrnehmung von Interessen" gut 20 Besucherinnen und Besuchern seine Sicht der aktuellen Militärpolitik dar.
Die bundesdeutsche Politik - so seine Erkenntnis - sei in den letzten Jahren militarisiert worden. Einfluss messe man nicht mehr vorrangig an wirtschaftlicher Stärke und diplomatischem Geschick, sondern an "militärischen Fähigkeiten". Noch vor zehn Jahren sei ein Einsatz der Bundeswehr außerhalb des nordatlantischen Raums undenkbar gewesen; in diesen Tagen sprechen sich selbst Grüne Politikerinnen und Politiker für eine Entsendung deutscher Soldaten in ein weit entferntes Gebiet aus, das nicht näher eingegrenzt wurde.
Für diese Veränderung der politischen Kultur nannte Becker Gründe: Schon der Kosovo-Krieg sei als "humanitäre" Hilfsaktion gerechtfertigt worden; nun sei es der "Kampf gegen den Terrorismus". Die Medien verbreiteten zudem ein Bild von Krieg als zielgerichtetem Schlag gegen den genau einzugrenzenden Feind; tatsächlich hätten aber zwei Drittel der im Kosovo abgeworfenen Bomben ihr Ziel verfehlt.
In Deutschland gebe es derzeit keine starke Friedensbewegung, da Grüne und SPD vom Pazifismus auf die andere Seite übergewechselt seien. Sie führten bruchlos die Politik weiter, die der damalige "Verteidigungsminister" Gerhard Stoltenberg 1992 begonnen habe. Damals habe er erstmals von der "Wahrnehmung von Interessen" als Einsatzbegründung der Bundeswehr gesprochen.
Diesem ZIel, wirtschaftliche und strategische Machtinteressen mit militärischem Druck weltweit durchsetzen zu können, dient auch der Aufbau der "Europa-Armee". Von den 180.000 hochmobilen , bestens bewaffneten und ausgebildeten Soldaten sollen 60.000 aus Deutschland kommen. Sie sollen innerhalb weniger Tage auf der ganzen Erde einsetzbar sein.
Im Aufbau dieser Armee sieht der Friedensforscher den Versuch der europäischen Regierungen, sich militärstrategisch von den Vereinigten Staaten abzukoppeln. Verärgerung über das Verhalten von US-Militärs gegenüber ihren europäischen Bünsnispartnern während des Kosovo-Krieges habe zu intensivem Nachdenken europäischer Militärs und Politiker geführt. Ergebnis sei der Aufbau eigener Krisenreaktionskräfte, die Beschaffung großer Transportflugzeuge beim europäischen Airbus-Konsortium und nicht - wie ursprünglich geplant - bei der amerikanischen Flugzeugfabrik Boeing sowie die Flexibilisierung europäischer Entscheidungsstrukturen. Auch die Beteiligung an den derzeitigen Militäraktionen der US-Army sieht Becker nicth in erster Linie als Ausdruck von Vaasallentreue, sondern im Gegenteil als Eingrenzung der US-Vormachtstellung durch Teilhabe an allen Entscheidungen. Das jetzt umkämpfte Gebiet sei traditionell europäische Einflussspäre. Und wenn Franzosen und Briten ihre Ansprüche durch militärische Präsenz geltend machen, dann wolle auch Deutschland nicht fehlen.
Möglicherweise gehe es bei den Militärschlägen auf Afghanistan in erster Linie um Öl, das die Firma des US-Vizepräsidenten Dick Cheney von Pakistan aus durch Afghanistan transportieren wolle.
Becker kritisierte die Desinformationspolitik auch durch elektronische Medien, der Pazifistinnen und Pazifisten mit Leserbriefen, Informationsständen und Aktionen entgegentreten sollten. Journalistinnen und Journalisten, die in dieser Situation Rückgrat beweisen, sollte man durch lobende Briefe an die Redaktionsleitung den Rücken stärken. Also,
dann ...!
05.11.2001 * (FJH)
Am Sonntag (4. November) haben die ausländischen Bürgerinnen und Bürger Marburgs zum drittenmal den Ausländerbeirat gewählt. Mit nur 5,58 % liegt die Wahlbeteiligung in Marburg noch unter dem Landesdurchschnitt von 7, 9 %. In 95 Gmeinddten und zwei Landkreisen Hessens waren gut 480.000 ausländische Mitbürgerinnen und Bürger wahlberechtigt.
Auf die - bei der letzten Wahl 1997 stärkste - "Interkulturelle Liste" (IKL) entfielen diesmal nur 934 Stimmen. Das entspricht einem Anteil von 26,6 %. Damit halbierte sich die Zahl ihrer Sitze in dem städtischen Beratungsgremium von bisher acht auf vier. Die IKL vertreten neben dem bisherigen Ausländerbeiratsvorsitzenden Dr.
Matin Baraki
aus Afghanistan Dr. Escandar Abadi, Mojde Amdjadi und Dr. Kamal Sido.
Die Liste "Internationale Solidarität" gewann auf Anhieb 1.191 Stimmen und erreichte damit 33,9 %. Ihre fünf Sitze gehen an Maryam Bastan, Toker Hakan, Nassrin Bastan-Bahreini, in Tang, und Muhammad Ahmad.
Die "gruppe ohne Grenzen" (GOG) wurde mit 1.385 Stimmen und 39,5 % stärkste Liste im Marburger Ausländerbeirat. Goharik Petrossian, Marico Engel, Hans Konrad, dimitri Korodko, Eva Wollmann und Loreta Bahakian werden die GOG im Ausländerbeirat repräsentieren.
Die "Internationale Linke Liste", die vor vier Jahren sieben Sitze erhielt, war bei der gestrigen Wahl nicht mehr angetreten. Überall macht sich Frust über die Machtlosigkeit der Ausländerbeiräte bemerkbar, weswegen auch so wenige der insgesamt 4.749 Personen. Wahlberechtigten den Weg ins Rathaus gefunden haben.
03.11.2001 * (FJH)
"Wer verbreitet welche Nachricht zu welchem Zweck?" Diese Frage einer Besucherin des "Politischen Salons" möchte zur Zeit auch mancher Journalist gerne beantwortet bekommen. Die Informationspolitik der Medien nach dem
11. September
stand am Freitagabend (2. November) im Mittelpunkt des "Politischen Salons" . Zu der Gesprächsrunde "Medienbilder, Kriegsbilder, Feindbilder, Weltbilder" der überparteilichen Frauenvereinigung hatten rund zwei Dutzend Frauen und drei Männer in den Historischen Saal des Marburger Rathauses gefunden.
Die Journalistin conny Schmidt eröffnete die Runde mit einem knappen Abriss der Ereignisse nach den Terroranschlägen auf das World Trade Center (WTC)( in New York und das Pentagon in Washington. Seitdem herrscht Krieg; doch über dessen Hintergründe fühlen sich viele zu wenig informiert. An die Stelle sachlicher Berichterstattung trete häufig eine zielgerichtete Meinungsmache. So kritisierten Anwesende die "bedingungslose Unterwerfung der deutschen Politik unter die US-Interessen". Offenbar sei es momentan unmöglich, im Fernsehen ungestraft ein kritisches Wort über die Politik der USA zu äußern.
In einem Interessengeflecht von Militärs, Geheimdiensten, Firmen und Politikern der unterschiedlichen Kriegsparteien haben auch gut informierte Journalistinnen und Journalisten Schwierigkeiten, wahre und erfundene Nachrichten voneinander zu unterscheiden. Zudem - so Schmidt - bekämen gerade kritische Journalistinnen und Journalisten oft Probleme, wenn sie aufrüttelnde Berichte - beispielsweise über Missstände in Afrika - absetzen wollten. Noch weniger transparent als die strategischen Hintergründe des Afghanistan-Kriegs seien damit verbundene wirttschaftliche Interessen.
Langjährige Konflikte zwischen den verfeindeten Ethnien Afghanistans würden systematisch benutzt, um sie gegeneinander auszuspielen, meinte eine Iranerin. Hinzu komme weitgehendes Unverständnis des Westens gegenüber dem Islam. Der Westen habe zwar versucht, der ganzen Welt seine Kultur aufzuzwängen, die unterdrückten und gefolterten Frauen in zahlreichen islamistisch regierten Ländern habe man jedoch alleingelassen. Erst jetzt, wo Menschenleben hierzulande bedroht sind, reagiere man aufgeregt.
Die von Bundesinnenminister Otto Schily geplanten Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus kritisierte die Runde als "Trittbrettfahrerei". Diese Einschränkung von Bürgerrechten könne dem Terror nichts Wirksames entgegensetzen. "Es ist unwahrscheinlicher, in Marburg an Milzbrand zu erkranken", als bei einem Verkehrsunfall zu sterben",meinte eine Ärztin, "und es ist sehr unwahrscheinlich, dass ein Flugzeug in unser schönes Rathaus fliegt!"
03.11.2001 * (FJH)
Seltsame Dinge geschehen seit dem
11. September
nicht nur in Amerika, sondern auch in deutchen Landen: Da analysiert ein Bundesinstitut eine Probe und kommt zweimal zu dem Schluss, dass es sich bei dem vorliegenden Material um Milzbranderreger handelt; dann untersucht das Robert-Koch-Institut noch einmal in großer Hektik die gleiche Probe und kommt genau zum gegenteiligen Ergebnis. Und zweimal positiv getesteter Milzbrand aus Norddeutschland löst sich plötzlich in den Geburtstagspaß eines kunstbeflissenen Spinners auf! Derweil tagt - bis in den späten Abend hinein - ein Krisenstab und beruhigt die Öffentlichkeit mit der Einschätzung, es bestehe keine größere Gefahr. Sollen wir das wirklich glauben?
Nur keine Panik! Eine "hysterische Gesellschaft", wie sie Marburger Wissenschaftler schon ausgemacht haben, würde skrupellosen Terroristen zielgenau in die Hände spielen. Aber unglaubwürdige Beschwichtigungsparolen und Beruhigungspillen ind Form bitterer Anti-Terror-Pakete zweifellos auch!
Angenommen, die Terroristen verfolgen ohne Rücksicht auf Menschenleben eine perfide Strategie und wollen die Infrastruktur der westlichen Wirtschaftsmächte stören, lahmlegen oder gar ausschalten; dann wäre nach dem Einbruch beim Flugverkehr und berechtigter Furcht beim Öffnen der Briefpost zur Zeit nur noch die elektronische Nachrichtenübermittlung ungefährlich. Aber vielleicht war der Viruswurm "Nimda" ja schon ein erster Anschlag, dem - wie beim weniger patogenen Haut-Milzbrand der gefährlichere Lungen-mIlzbrand - ein wesentlich wirksamerer zweiter Angriff folgt.
Das alles ist reine Spekulation. Vielleicht wurde die israelische Maschine über dem Schwarzen Meer ja wirklich versehentlich abgeschossen, war die Chemiekatastrophe in Toulouse ja tatsächlich die Folge unverantwortlicher Schlamperei des Managements, habt auf dem Amsterdamer Flughafen Schiphol ja wirklich nur eine "harmlose" Schießerei stattgefunden. Nichts ist unmöglich. Der weise Satz des französischen Philosophen René Descartes gilt gerade auch für die heutige Zeit: "Ich weiß, das ich nichts weiß."
01.11.2001 * (FJH)
"Glücklicherweise gibt es in Marburg vergleichsweise selten Übergriffe auf Ausländerinnen oder Ausländer", stellt Dr. Matin Baraki fest. Der Vorsitzende des Ausländerbeirats der
Stadt Marburg
führt die Weltoffenheit der Bürgerschaft vor allem auf die
Universität
zurück, an der er selbst wissenschaftlich arbeitet. "Vorkommen kann so was aber auch in Marburg!"
Um die Interessen der rund 6.000 ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger gegenüber den städtischen Gremien zu vertreten, wählen sie am Sonntag (4. November) den Ausländerbeirat.
Von 8 bis 18 Uhr können alle in Marburg gemeldeten Ausländerinnen und Ausländer im Rathaus ihre Stimme abgeben. Wahlberechtigt sind 4.749 Personen. Wählbar sind auch Ausländerinnen und Ausländer, die inzwischen die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen haben; wählen dürfen sie den Ausländerbeirat aber nicht.
Drei gemischtnationale Listen stellen sich am Sonntag zur Wahl. Die "interkulturelle Liste", auf der auch Baraki kandidiert, stelt seit Gründung des Gremiums im Jahr 1993 die Mehrheit. Seither ist der gebürtige Afghane auch Vorsitzender des 15-köpfigen Beirats.
Als wichtigste Forderung nennt der 54-jährige ein "interkulturelles Zentrum", das die Begegnung der einheimischen Bevölkerung mit fremden Kulturen ermöglicht. Seit acht Jahren habe die Stadt diese Forderung aber wegen der damit verbundenen Kosten abgelehnt.
Knauserig zeigt sich der Magistrat auch bei der Ausstattung des Ausländerbeirats: Weder bezahlt er ihm eine professionelle Geschäftsführung, noch verschafft er ihm ausreichenden Raum: "Wir haben nur einen einzigen Raum", klagt Baraki. "Wenn ich montags zwischen 10 und 12 Uhr Sprechstunde habe, müssen die Besucher - auch Kinder, Mütter und alte Menschen - auf der Treppe warten. Ebenso unhaltbare Zustände herrschen auch Donnerstagsabends bei unserer Rechtsberatung."
16.10.2001 *
Sinti: Keine Zukunft ohne Gedenken
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